Höhenluft
Jenseits des »kontrollierten Abenteuers«
Gegen den »Mont Everest Tourismus« des Geistes
Von Frank Lisson
Was »bewegt« uns eigentlich, wenn wir nach »Freiheit« verlangen? Und wo wollen wir hin, wenn wir uns gegen die Sicherheit des Üblichen und gegen das, was »sein soll«, entscheiden? – Der Mensch gehört nicht in die Luft, nicht in die Weiten oder gar Tiefen des Meeres und auch nicht ins Hochgebirge, sowenig wie er auf die Klippen geistigen Abweichlertums gehört, denn dort geht es überall äußerst unwirtlich zu, das heißt, dort findet er nicht jenen Lebensraum vor, für den er seiner Natur nach bestimmt zu sein scheint. Der Mensch gehört auf die Erde, unter den Schutz der ihn wärmenden Gruppe, an den Ort allgemeiner Übereinstimmung; also ins Gehäuse seiner Zeit, das ihn umschließt wie eine Biosphäre. Wer den Schutz dieser Biosphäre verlässt, begibt sich auf »Abwege«. Sich auf Abwege befinden heißt im besten Falle, randläufig zu sein, im schlechtesten, mit dem, was »sein soll«, nicht übereinzustimmen.
Die »erste«, mächtigste und älteste Natur des Menschen zwingt ihn von klein auf in die Reihen des Üblichen, des buchstäblich Angesagten, das ihn modifizierend fortsetzen lässt, was er vorfindet. Denn das Übliche ist das von der Mehrheit Ein- und Ausgeübte, das Angesagte das, was von den Repräsentanten der jeweiligen historischen Entwicklungsstufe angesagt wird, also der politische oder modische Code, worüber sich ein Verband »kulturell« definiert. Es stiftet jene Geborgenheit, die der Einzelne als soziales Wesen nötig hat, um am Beispiel anderer zu lernen, wie man am besten und bequemsten im Leben zurechtkommt. Das nennen wir, ganz wertfrei, Anpassung.
Aber es gibt noch eine »zweite« Natur, die sich gewöhnlich erst dann meldet, wenn die erste aufgrund höherer sozialer Organisation befriedigt worden ist. Weiß sich der Mensch durch eine gewisse materielle Sicherheit geschützt, wird er »mutig« und wagt allmählich den einen oder anderen Schritt über die Linie: es zieht ihn nach »draußen«, in den ungeschützten Raum, in die Wildnis des Denkens wie in die der Berge und unbekannten Weiten. Denn nun genügt ihm das Übliche und Angesagte nicht mehr, er will buchstäblich seinen Horizont erweitern, indem er die Welt, die ihn umgibt, praktisch wie theoretisch zu erforschen sucht.
Dank dieser Begabung, durch Erforschen der Dinge »Herr« über die Dinge zu werden, gelang dem Menschen nach und nach die Domestizierung bald jeglicher Natur, also sowohl die seiner eigenen als auch die der äußeren Umgebung. – Damit schwand aber zugleich allmählich die Notwendigkeit, sich über das Übliche und Angesagte hinwegsetzen oder sich diesem gar entgegenstellen zu wollen, da es bald keine »fremde« oder unergründete, »freie« Umgebung mehr gab. Aus Innovation wurde Korrelation: der Denkende richtete sich im Vorhandenen ein, wurde zum Beamten und Sachverwalter des Gegenwärtigen. Mit der Kontrolle über die Erde, also mit Abschluss ihrer vollständigen Entdeckung und Vermessung bedurfte es des Abenteurers nicht mehr, der denkend oder handelnd die »dunklen Flecken der Welt« für die Menschheit erschloss und sie ihr dadurch zugänglich machte. Der Mut zur Freiheit, sich auf Abwege zu begeben jenseits der abverlangten Übereinstimmungen, verliert sich aus den Köpfen, sobald es keine möglichen Welten hinter der bestehenden mehr gibt, da diese die im Grunde »einzige« geworden ist. Die »zweite Natur« des Menschen, wie sie etwa bei einem Columbus, Galileo oder Nietzsche schöpferisch wurde, bleibt von vornherein unterentwickelt und in strenger Abhängigkeit zur »ersten Natur«, wenn die unbeobachteten Räume fehlen, in denen sie hätte wachsen und sich behaupten können.
Es besteht daher ein direkter Zusammenhang zwischen der Domestizierung, der Befriedung der Natur durch den Menschen, und dem Schwinden seines Mutes wie seiner Begabung zur Freiheit, die vorgegebenen Wege innerhalb der herrschenden Wirklichkeit zu verlassen. Zuletzt gerät die Möglichkeit und mit ihr das Bedürfnis, unabgesicherte Pfade einzuschlagen, in Vergessenheit, wenn alles, was der Mensch in der Welt vorfindet, bereits in irgendeiner Weise für ihn »bearbeitet« und »kontrolliert« worden ist.
Ein treffendes Gleichnis für diesen Zustand findet sich in der »Zähmung«, also in der Begehbarmachung des Hochgebirges für Touristen: hier wird eine an sich unwirtliche Landschaft, die für den Menschen nicht geschaffen ist, durch Herstellung von Wegen, Markierungen und Sicherungsmaßnahmen zu einer »Herausforderung«, die jedoch so gut wie kein echtes Risiko mehr in sich birgt. Inzwischen ist es möglich, unter Anleitung eines Bergführers sogar den Mont Everest gruppenweise zu besteigen. Mit Sauerstoffgeräten, vorbereiteten Depots und allem, was ein »kontrolliertes Abenteuer« an Komfort erfordert. Der Tourist, der natürlich die körperliche Voraussetzung für eine solche Tour mitbringen muss, bekommt das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu tun, denn er kann sagen, den höchsten Gipfel der Welt bestiegen zu haben. Das ist unbestritten auch immer noch eine beachtliche Leistung. Aber eben eine, die nicht mehr den Wagemut des auf sich allein gestellten Entdeckers erfordert. Denn die Route, die der Mont Everest Tourist nimmt, ist eine angelegte. Er geht ausschließlich bereits vorhandene, abgesicherte und bekannte Wege, die er sich nicht selber suchen muss, das heißt, er weiß zuvor, was ihn erwartet. Sein »Mut« besteht also lediglich darin, dass er die Widrigkeiten, Anstrengungen und vielleicht auch Schmerzen, die mit einer solchen Tour verbunden sind, auf sich nimmt.
In einer vergleichbaren Situation befinden wir uns heute, wenn wir geistig das Tal der uns anerzogenen Meinungen und Denkgewohnheiten verlassen wollen. Es gibt auch im Geistigen eigentlich keine Gipfel mehr, die nicht andere schon vor uns erstiegen und damit »begehbar« gemacht, das heißt, den Weg dorthin aufgezeichnet haben. Deshalb bleiben die meisten inzwischen von vornherein im Tal, denn sie sagen, da oben gebe es sowieso nichts zu entdecken, das nicht andere bereits, und in der Regel sogar schärfer, gesehen hätten. Also verweilen sie »freiwillig« in der Enge des Angesagten. Ein Weiteres kommt hinzu: wer sich mit dieser Verurteilung zum Üblichen nicht abfinden und unbedingt in die Höhen will, muss einer renommierten »Wandergruppe«, also einer »Schule« des herrschenden Denkens beitreten, damit sein Unternehmen auch glückt und im Tal wahrgenommen wird. Als »einsamer Wanderer« hat er keine Chance. Deshalb wagt sich inzwischen kaum noch jemand um des bloßen Gedankens willen vor die Tür, sondern weil er auf die zu erwartende Anerkennung der im Tal Gebliebenen hofft. Denn von dort hat er die »Genehmigung« erhalten, von dort aus wird er weiterhin »beobachtet« und muss während seiner Wanderung mit dem Tal ständig in Verbindung bleiben. Dennoch gibt sich jeder in der Gruppe den Anschein, als bewege er sich ganz individuell auf »abseitigen« Wegen.
Aus diesem Grund wird die heutige Öffentlichkeit vor allem von solchen Intellektuellen dominiert, die einen Großteil ihrer Prominenz daraus beziehen, dass sie eine Art »Mont Everest Tourismus« des Geistes betreiben. Sie hangeln sich am Seil in die Höhe, folgen den befestigten Pfaden, die von ihren allgemein anerkannten Vorgängern extra für sie bereitet wurden, fühlen sich aber als »freie Geister«. Also schreiben sie, was sie als »engagierte Schriftsteller« für richtig halten. Sollte das nun zufällig aber genau das sein, was man im Tal von ihnen erwartet, zeige das nur, wie gut die Demokratie funktioniere. Sie mischen sich tapfer ein, indem sie etwa vor einem bevorstehenden »Gesundheitsfaschismus« warnen oder den »Überwachungsstaat« kritisieren, sobald dieser ihre persönliche Freiheit bedroht. Dass dieser »Überwachungsstaat« einen bedeutenden Teil des eigenen (sozial-demokratischen) Machtmilieus darstellt, ohne dessen Wohlwollen, Honorierung und Sicherheitsleinen sie den Gang ins Gebirge niemals antreten würden, verkennen sie notwendigerweise. Auch, dass man sie plötzlich nicht mehr hören würde, wenn sie die Gruppe verließen, sich im Gebirge verirrten und auf einmal ganz alleine dastünden. Trotzdem kommen sie sich ziemlich mutig dabei vor, stets nur von der »richtigen Seite« aus Kritik zu äußern. Denn selbst, wer sich auf gesicherten Pfaden und innerhalb des Milieus auf erlaubte »Abwege« begibt, sagen sie, kann stürzen, wenn er sich nicht geschickt genug verhält. Dieses Risiko bleibe. Deswegen werden diejenigen, die heil wieder unten ankommen, aufgrund ihres »Mutes« von den im Tal Gebliebenen gefeiert und fortan innerhalb des Betriebs als »Querdenker« gehandelt.
Doch welches Risiko sind sie in Wahrheit eingegangen? In dem Fernsehfilm »Zivilcourage« von Dror Zahavi und Jürgen Werner kommt diese Heuchelei und linke Lebenslüge, die sich tief in unser aller Bewusstsein eingegraben hat, ungewöhnlich offen zur Sprache. Dort fragt der Protagonist Peter Jordan, nachdem einer seiner Alt-68er-Kumpel damit prahlte, dass er sich mutig immer vor jeden Wasserwerfer gestellt habe, welcher Gefahr – im Vergleich zu einem echten, existentiellen Wagnis – man sich denn dabei ausgesetzt hätte? „Was haben wir schon riskiert? Etwa die Heimat? Die Familie? Das Leben? – Höchstens einen Schnupfen haben wir riskiert.“
Damit ist die innere Verlogenheit benannt, die den 68er-Staat und also unsere Wirklichkeit wie kaum etwas anderes charakterisiert. In dieser konstruierten, weil überall begradigten und durch Erziehung zur Vorsicht und »richtigen« Gesinnung geformten Wirklichkeit bewegt sich das Denken wie sich Tiere im Zoo oder im Zirkus bewegen: der Denkende ist ein abgerichteter Tiger, der nie die Freiheit des Außerhalbseins, der nie das »Draußen« wirklich kennen gelernt hat, sondern lediglich dessen Simulation. Ihm ist der gelebte Sinn für das Wesen seiner Art verlorengegangen. Deshalb fehlt dem Denkenden als Erziehungsprodukt dieser Wirklichkeit allgemein die Ernsthaftigkeit, die Tiefe und vor allem das tragische Bewusstsein für die Situation, in der er sich befindet. Zwar will er »Tiger« bleiben, weiß aber zugleich, dass ihm die wirklich heiklen und großen Fragen so unberührbar sind, wie dem Tiger im Zirkus das Fleisch des Dompteurs. Berührt er, was ihn dressiert und in Zaum hält, verstößt er gegen den Status des von der »Geschichte Geschlagenen«. Der »Tiger« muss lernen, dass Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und ein »abenteuerliches Herz« in der sozialen Zivilgesellschaft des Versorgungsstaates im Grunde etwas Böses sind. Gelingt diese »Perversion«, begibt er sich freiwillig in Schutzhaft vor den Naturgesetzen der Freiheit und wird zum »passiven Akteur«, der gezwungen ist, sich andauernd selbst zu verleugnen.
Vielleicht liegt darin eine der psychologischen Wurzeln des »Gutmenschentums«, das zu den größten Rätseln und peinlichsten Phänomenen unserer Zeit zählt. – Wie konnten die Erben einer Kultur, der Freiheit und Mut einst die höchsten Werte waren, massenhaft zu Karikaturen des Lebens werden?
Der Intellektuelle im Gehege der Sicherheitszivilisation, die ihn mit allem versorgt, wonach seine Eitelkeit verlangt, kennt keine existentiellen Gefahren mehr. Er hat tatsächlich nie etwas riskiert, außer »einen Schnupfen.« Dieser Verlust elementarer Erfahrungen erhöht die Bereitschaft, es sich im vorgefundenen Denkgebäude bequem zu machen. Doch gleichzeitig benötigt der »engagierte Schriftsteller« Reibungsflächen, an denen er sein Talent unter Beweis stellen kann. Da er aber nie gelernt hat, echte Gefahren von bloß herbeigeredeten zu unterscheiden, konstruiert der Haus- und Hofintellektuelle Ersatzgefahren, gegen die sich engagieren kann und soll, wer sich »einmischen« will. Die wirksamsten und beliebtesten Ersatzgefahren unserer Tage lauten »Klimawandel« und »Rechts(extremismus)«. Beide sind nicht eigentlich fassbar und existieren mehr in den Köpfen der sie Bekämpfenden als in der Realität, aber gerade das macht sie so besonders attraktiv für den kleinen, abgerichteten Hysteriker, der die Welt retten will, ohne sich dabei auch nur der geringsten Gefahr auszusetzen. Schließlich wird sein Engagement reichlich steuerfinanziert, und die öffentliche Anerkennung ist ihm sicher. – Besser kann man im 68er-Staat des »kontrollierten Abenteuers« den Helden nicht spielen.
Was aber »bewegt« nun diejenigen, die sich den herrschenden Tendenzen des Üblichen und Angesagten widersetzen? – Es ist jene geschwächte, aber noch nicht abgestorbene »zweite Natur«, die sich gegen ihre Sozialisierung empört und dadurch den Betrug an der Freiheit überhaupt erst bemerken lässt, den der 68er-Staat täglich an uns verübt. Denn wer gemäß der herrschenden Verhältnisse denkt und handelt – das heißt heute: wer von Grund auf erfolgreich sozial-demokratisiert worden ist –, bleibt wie jeder politisch oder religiös dressierte Mensch seinem Wesen nach unfrei, da es ihm nicht mehr gelingt, das Tal, also das abgesteckte Revier, das er denkend bewohnt, zu verlassen.
Die »zweite Natur« aktiviert dagegen jenen Rest Abenteurertum, Rücksichtslosigkeit, Trotz und Stolz, der dem »anständigen«, karriereorientierten Intellektuellen fehlt: sich den Gesinnungsbeauftragten bewusst zu verweigern, um unbeaufsichtigt im Gebirge des Denkens herumzuklettern... und dabei niemandem gefallen wollen, sondern sich auf das Wesentliche besinnen. Denn das macht die Höhenluft so gefährlich: sie erzählt von einer anderen Ordnung, und der Mensch, der sich auf ihre Erzählung einlässt, droht den »Wahrheiten« des Tales abhanden zu kommen, die uns im Üblichen und Angesagten gefangen halten.
eigentümlich frei, Nr. 102, Mai 2010