Das Kaninchen bin ich
Von Frank Lisson
Wer sich an dem zumeist banalen, aber volkspädagogisch »wertvollen«, oder schlicht absurden, aber unterhaltsamen Handlungen neuerer deutscher Filmproduktionen sattgesehen hat, greife vielleicht einmal zu jenen DEFA-Streifen, die zwischen 1965 und 1966 in der DDR zwar gedreht, aber nie zur Ausstrahlung zugelassen worden waren. Erstaunlich nämlich, daß es in der DDR jener Jahre offenbar noch genügend Mut und Bereitschaft, vor allem aber genügend Bewußtsein für die großen Fragen der Zeit gab, verbunden mit einer luziden Kritikfähigkeit, wie man sie später in deutschen Studios und Redaktionen nie wieder finden sollte, weil sie im Osten durch das Regime der SED, im Westen durch das der kulturbetrieblichen Selbstzensur vollständig ausgerottet worden war. Diese ungemein kunstvoll-subtilen wie hintergründigen Filme, getragen und durchdrungen von einer rührend-naiven Sehnsucht nach Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit, wie Das Kaninchen bin ich oder Denk bloß nicht, ich heule oder Der verlorene Engel oder Karla erschüttern das dafür empfängliche Gemüt heute vielleicht noch mehr, als sie es damals getan hätten. Denn zum vorerst letzten Mal wurden hier Dinge offen beim Namen genannt, die kein herrschendes Milieu hören will, indem man nämlich die tatsächlichen Unterdrücker und deren Machenschaften zum Gegenstand der Kritik erhoben hatte.
In dem Drama Denk bloß nicht, ich heule, versucht der jugendliche Held Peter Naumann, den sein renitentes Verhalten jegliche Karriereaussichten verstellt und dem man eben deshalb vorwirft, sein Leben »wegzuwerfen«, aus jener Enge, Furcht, Gleichgültigkeit, Anpassungs- und Verleugnungsbereitschaft auszubrechen, in die alle Gesinnungsstaaten ihren Nachwuchs hineinzuerziehen bemüht sind. Man sagt ihm, das wichtigste sei zu leben; er aber beschimpft sogar seine vermeintlichen Gefährten, die Freiheit mit der Lizenz zum kriminellen Handeln verwechseln. Auch seine Freundin versteht ihn nicht recht, will ihn daher »bessern«. Peter: »Du liebst natürlich die Republik.« Anne: »Ja.« Peter: »Ich nicht! Weil ich nicht lügen will! In Physik muß ich denken, in Stabü darf ich nicht. Weil ich nicht will, daß nur meine Lügen gebraucht werden und nichts anderes von mir. – Das hab’ ich im Aufsatz geschrieben.« Anne: »Warum denkst du so?« Peter: »Warum???« – Wo läse oder hörte man heute, im Zeitalter ohnmächtig akzeptierter oder verharmloster Political Correctness, solche Dialoge? Nirgends; weil dort, wo alle nur noch leben wollen, tatsächlich niemand mehr so denkt. Denn eben das hat die Sache so einfach gemacht und gibt Antwort auf die Frage, wie es nach zwei gescheiterten Versuchen einem politischen Milieu endlich gelingen konnte, eine ganze Gesellschaft moralisch derart zu konditionieren, daß jeder nunmehr »freiwillig« tut, wozu bisher stets direkte Gewaltandrohung nötig war; und man sich bereits selber zensiert, noch bevor ein unerwünschter, fremder Gedanke überhaupt heranreifen kann.
Sämtliche Protagonisten der genannten Filme scheitern an ihren Idealen, an ihrem Anspruch auf Wahrheit, den die staatliche Wirklichkeit ihnen auszutreiben versucht: die junge Kellnerin Maria Morzeck, deren Bruder wegen »staatsgefährdender Hetze« zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist, und die, zunächst ahnungslos, mit dessen Richter ein Verhältnis beginnt; der Schüler Peter Naumann, der gegen die Staatsverlogenheit aufbegehrt; der Künstler Ernst Barlach, dessen Werke ab 1937 aus der Öffentlichkeit entfernt werden, woran der alte Mann zerbricht; die unangepaßte Lehrerin Karla, die ihre Schüler zum eigenständigen Denken erziehen will. – Nichts Vergleichbares ist je im Westen entstanden, da dort eine solche Freimütigkeit unter den Kunstschaffenden gar nicht erst aufkommen konnte, nachdem rasch zur Meinungsherrschaft gelangte und heute noch herrschende Kartelle sich bereits in den 1950er/1960er Jahren das Monopol auf Kritik gesichert hatten und deren Interesse einem ganz anderen Ziel verpflichtet war: dem der Subversion; zunächst der nihilistisch-existentialistischen, dann der utopisch-sozialistisch-anti-imperialistischen. Daraufhin mußte jede Form von Unzufriedenheit durch die »richtige Gesinnung« abgedeckt sein.
Zwar sollte sich die Kunst gerade im Westen gegen das »System« richten, aber nur solange, wie man als Kritiker mit der moralisch einzig zulässigen Gesinnung das System selber noch nicht verkörperte. Denn kritikberechtigt war allein, wer wenigstens vorgab, den entgegengesetzten Standpunkt derer zu vertreten, die den Krieg verloren hatten. Damit wurde von Anfang an jeder sachlichen Auseinandersetzung der Boden entzogen, jeder Gegner dieser neu verordneten Moral unter Generalverdacht gestellt und mundtot gemacht. So erst konnte das Trauma der totalen Niederlage, der Ohnmacht, der Schuld und der Beschuldigungen seine volle Wirkung entfalten und zur kollektiven Psychose heranreifen. Denn erst die als verdient empfundene Niederlage macht aus Besiegten Täter, und aus Tätern Verbrecher. Daraus erklärt sich die Neigung aller Besiegten, die Moral derjenigen Täter zu übernehmen, denen man unterlag. Damals also entstand das hochkomplizierte Geflecht aus taktischer Gesinnung und politisch-sozialem Machtkalkül, worin sich bald jeder verwickelte und das schließlich zu der allgemein verbreiteten Betriebsblindheit führte, die jede echte, tiefergreifende Kritik an den Ursachen herrschender Doktrinen und Tabus verhindert und das Verstehen derselben so sehr erschwert. Deshalb bleibt oft nur hilfloses, bitteres Erstaunen, wo die besagte Psychose sämtliche Wege hin zur Befreiung aus ihren Zwängen blockiert.
Alle Gesinnungsstaaten waren stets bemüht, ihren Totalitarismus dadurch zu verblenden, daß sie ostentativ auf den Totalitarismus des besiegten Vorgängers hinwiesen. Und so loben und fördern auch die Zensoren von heute die Zensierten von gestern, ohne daß das Groteske dieser Situation irgendjemandem der Beteiligten und stillen Dulder aufzufallen scheint oder in ihnen Zweifel auslöste. Halten doch diejenigen, denen die moralische Selbstermächtigung alle Skrupel genommen hat, ihre Willkür, ihre Schikanen, ja sogar ihren Terror stets für »gerecht«. Deshalb gibt es hierzulande bis dato keinen einzigen tatsächlich regimekritischen Film zu sehen, der die Lage der heutigen Oppositionellen auf gleich mutig-naive Weise anschaulich machte, wie dies in besagten DEFA-Filmen geschah. Und das, obwohl es sich dem Betrachter mehr als aufdrängt, die dort geschilderten Fälle auf die heutigen Verhältnisse zu übertragen. Denn wo sind die Filme, in denen dieses Land aus der Perspektive unangepaßter Lehrer gezeigt würde? Oder aus der gegen Indoktrination, Gender-Wahn, Inklusion, Überfremdung rebellierender junger Leute, bei denen die Erziehung zum linken Einheitsmenschen versagt hat; sensible Einzelne, die, wie einst, der »staatsgefährdenden (heute: populistischen) Hetze« beschuldigt werden und daraufhin ihren Arbeitsplatz verlieren, keine akademische Karriere machen, ja nicht einmal ein höheres öffentliches Amt bekleiden dürfen. Filme, die zeigen, wie es »verdächtigen« Künstlern und Autoren mit Büchern bei »verdächtigen« Verlagen hierzulande ergeht, deren Werke ohne Berücksichtigung ihres Inhalts aus öffentlichen Räumen und Bibliotheken entfernt oder prinzipiell gar nicht erst angekauft werden. – Wir alle mußten lernen, und die meisten haben gelernt, zu schweigen, wegzusehen, die Willkür hinzunehmen, ohne daran irre zu werden. So sind wir unsensibel geworden gegen jede Form der Repression, die von den »Guten« ausgeht. Denn der Zivilgesellschaft nach Maß haben die systemimmanenten Pervertierungen der eigenen Vorsätze schlichtweg egal zu sein.
Wer dennoch solche Alltagswirklichkeiten filmisch ins Licht setzten wollte, fände hier und heute weder einen Regisseur noch eine Produktionsfirma, die bereit wären, gegen die zivilgesellschaftliche Norm zu verstoßen. In der frühen DDR wurden regimekritische Filme immerhin noch gedreht, um sie daraufhin (gegebenenfalls) zu verbieten; hier und heute erspart man sich den Aufwand und läßt die Zensur bereits im Vorfeld walten, weshalb derartige Produktionen gar nicht erst entstehen können. Man hat gelernt – und bleibt beim Ungefährlichen, das ins eigene Weltbild paßt. So etwa der Film Hunger auf Leben (2004) über das relativ kurze Leben der verführerisch-attraktiven DDR-Staatsautorin Brigitte Reimann (1933-1973); einem Literatur-Vamp: sinnlich-exaltiert, linientreu, weil gutgläubig und karriereorientiert, aber keine Genossin; freilich auch kritisch, ja widerspenstig, vor allem dann, wenn der Schatten des Regimes einmal auf sie selber fällt. Eine solche Autorin bringt also einiges von dem mit, was auch den heutigen Kulturbetriebsschriftsteller auszeichnet, weshalb es hüben wie drüben – und keineswegs unberechtigt – stets als schick galt, sie zu mögen. Folglich gibt ihr exzessiv bewältigtes Leben einen unterhaltsamen Filmstoff ab, sofern man nicht zu viele Ähnlichkeiten zwischen den heutigen und den damaligen Realitäten bemerken will. Denn dann müßte der Filme zutiefst verstören. Und so kennt das Leben Brigitte Reimanns auch wache Momente, etwa als sie den ideologischen Erwartungen einmal nicht mehr entsprach und prompt zu spüren bekam, was es bedeutet, plötzlich auf der »falschen Seite« zu stehen: »Mein Hörspiel habe ich vom Rundfunk zurückbekommen. Es hat ausgezeichnet gefallen… jedoch müßte man bedauern… – Das politische Aber! – Manchmal hasse ich das ganze deutsche Pack, dieses Volk von Kriechern und Mitläufern; Leute, die immer nur das taten, was man ihnen von oben befahl.«
Wer nun eben solches, fast wortgleich erlebt und empfunden, über viele Jahre hinweg mit hiesigen Verlagen und Rundfunkredaktionen erfahren hat; wessen Klage über solche Verhältnisse vor einem verständigen Lektor eines renommierten Verlages nur am privaten Telephon stattfinden durfte, aus Furcht, es könne ein Kollege mithören; wer bei seiner Promotion mitten in der Arbeit gezwungen worden war, den Antrag zurückzuziehen, weil man ihn, nachdem »Recherchen« über ihn eingeholt worden waren, verdächtigte, »politisch nicht tragbar« zu sein, und wer dann an der nächsten, vorsichtig ausgesuchten Universität scheu und eingeschüchtert und in aller Heimlichkeit bis zur Urkundenverleihung zittern mußte, doch noch denunziert oder »geoutet« zu werden; kurz: wer von den Kulturfunktionären heutigen Schlages in Verlagen, Rundfunk und Universität ausgespuckt worden ist, weil er nicht schmeckt, wie es die herrschende Ideologie verlangt, sieht solche Filme mit anderen Augen. Er hat erlebt und erlitten, womit die Heuchler und Hofschreiber nur kokettieren. Und er hat begriffen: in Staaten wie diesen besteht die sogenannte »Kultur« aus dem sich selber spielenden, sich selber feiernden, sich selber inszenierenden, in sich geschlossenen Apparat instinktiver Gradlinigkeit aus Gefallsucht, worin jeder leugnet, was er nicht sehen will, und alsbald vergißt, daß es sein Schweigen ist, das Unrecht schafft, indem es Unrecht duldet.
Wer sich von all dem nicht völlig abstumpfen oder korrumpieren ließ, mußte in der späten BRD die gleichen Erfahrungen machen wie die Sensibleren in der frühen DDR: vielleicht war er mit fünfzehn Jahren entschlossen, seinem Land zu dienen, sich politisch zu engagieren, wollte helfen, einen gerechten, demokratischen Staat aufzubauen oder zu erhalten, bis er mit vielleicht zwanzig Jahren erkannte, daß die Worte von »Freiheit« und »Pluralismus« doch gar nicht so gemeint waren… Also beteiligte er sich vielleicht noch bis fünfundzwanzig oder dreißig gewissermaßen aus Protest an der Farce des Politischen, schämte sich aber bereits für seine einstige, jugendliche Naivität, das durch und durch Verlogene der politischen und kulturellen Klasse nicht schon früher erkannt zu haben, bis er mit vielleicht vierzig Jahren das Ganze gründlich satt hatte, den Zirkus der täglich ausgerufenen Phrasen nur noch verachtete und, bevor der in ihm nistende Ekel zum Krebsgeschwür mutierte, sich von allem, von den real-sozialistischen wie von den linksliberalen Lebenslügen, resigniert abwandte. Einst klang das so (Reimann, Tagebücher): »Seit der CSSR-Affäre hat sich mein Verhältnis zu diesem Land, zu dieser Regierung sehr geändert. Verzweiflung. Manchmal Anfälle von Haß. (…) Nichts ist schlimmer als hilfloser Zorn, die Unfähigkeit zur Aktion.«
Wahrscheinlich haben solche und ähnliche Erfahrungen stets bewirkt, daß jede theoretisch beabsichtigte Demokratie alsbald zur real existierenden Ochlokratie herabsinken mußte: denn zuletzt sind nur noch die Schlechtesten bereit, sich an der großen staatlich-obligaten Posse zu beteiligen. Ist doch bislang jede demokratische Verfassung daran gescheitert, daß sich bald niemand mehr daran hielt, weil die charakterlosesten Naturen schließlich alle anderen verdrängt hatten, so daß allein die Linientreuen und Karrieristen übrig blieben und sagen konnten: der Staat bin ich!
Warum aber funktioniert die heutige, so einnehmend seriös und professionell flimmernde Ochlokratie viel besser als alle bisherigen, und warum ruft sie nur noch so wenig Widerstand hervor? Vielleicht kommt es auch hier auf die Dosis an: wo die Strafen nicht mehr drakonisch sind, sondern den zu Bestrafenden leise und langsam zerstören, wo es keine Engpässe oder Mängel in der Versorgung mehr gibt, welche die geistigen Repressionen noch drückender machten, und überall das »Gefühl« vermittelt wird, alles zu dürfen und »frei« zu sein, lohnt es sich nicht, diese, wenngleich vor allem virtuellen Vorzüge einzubüßen, indem man genauer hinschaut, nach »anderen Verhältnissen« verlangt und dadurch seinen Ausschluß aus der Community des »schönen Lebens« angesagter Meinungen riskiert. Möglicherweise hindert diese Furcht die allermeisten daran, das doch bloß geringe Abstraktionsvermögen aufzubringen, um die Parallelen zwischen den beiden Wirklichkeiten zu erschauen und das Wort von der endlich erreichten »Ankunft im freiheitlichsten und gerechtesten Staat« als den größten bundesrepublikanischen Mythos zu entlarven. Denn zuletzt gründet fast jeder Staat auf der Selbstgefälligkeit, das heißt Ignoranz und Eitelkeit seiner Karrieristen. Darin besteht die vielleicht zäheste anthropologische Konstante. Zu allen Zeiten sucht jeder einzelne der vielen Profiteure im jeweiligen Regime das ihm nützliche Mittel, den eigenen Zweck zu erfüllen. Dahin zwingt ihn gewissenmaßen das Leben selbst. Und deshalb schämt sich in keinem Staat, auch im heutigen nicht, irgendjemand der Akteure seiner immer gleichen Machenschaften, und seien diese auch noch so schäbig. Das Spiel der Vorteilsverlogenheit beginnt fast jeden Tag aufs neue; es ist vielleicht der nämliche instinktive Mechanismus, der auch die Spinne lenkt, wenn sie täglich ihr Netz an der gleichen, einmal ergiebigen Stelle neu webt, mag es dort auch noch so oft zerrissen werden. Oder eben der des Kaninchens, das sich immer wieder das Fell über die Ohren ziehen läßt, weil gewissermaßen sein Zweck darin besteht, gefressen zu werden. – Der Zweck des Menschen aber ist, wie man sagt, das »schöne Leben«. Dies zu erreichen gelingt jedoch nur demjenigen, der erfolgreich ignoriert, daß das gesamte Gebäude auch der heutigen Wirklichkeit auf lauter Selbstbetrügereien gründet; bald unser ganzes staatliches, wirtschaftliches, weltanschauliches, privates Dasein hängt davon ab. Folglich kann niemand wollen, daß dieses über Generationen mühsam aufgebaute Gehäuse zusammenbricht. Zu viele sind darin integriert, haben auf Gedeih und Verderb ihren Pakt mit der staatlichen Wohngenossenschaft geschlossen, zu viele verdanken ihre komplette Existenz jener Bigotterie. Freilich stellt dieser bedrückende Zustand jeden auf die Charakterprobe, indem seine Repräsentanten dem Einzelnen zurufen: wir werden auch dich schon noch kleinkriegen, denn in jedem Menschen steckt ein fauler, aber fruchtbarer Kern, den wir für uns beanspruchen und dienstbar machen wollen.
Solches auszusprechen ist kein Pessimismus; es sind auch keine »Nachtgedanken«, sondern kühle Beobachtungen der Lage, die kaum jemand ernsthaft leugnen kann, der hierzulande die politische Wirklichkeit der letzten dreißig Jahre erfahren hat. Allein die vielen Nutznießer und Ignoranten jener Wirklichkeit, dürften sich zu einem milderen Urteil verspflichtet fühlen. Denn die Fähigkeit, in alle Verhältnisse hineinzuwachsen und sie nur so weit zu kritisieren, wie man niemandem der Täter wehtut, am wenigsten sich selber, gehört zu den Grundvoraussetzungen des »schönen Lebens«. Deshalb ist es ein nur schwacher Trost, darauf hoffen zu dürfen, daß die heute als die »Bösen« stigmatisierten, die Geächteten, Schikanierten, Verstoßenen und Verschwiegenen, vielleicht morgen die »Guten« sein werden; denn den Schaden und das aufreibende, zerstörte Leben erleiden sie hier und jetzt.
Sich nun unter denjenigen notwendig dagegen zu empören, die von der Falschheit des geschichtspolitischen Mythos, auf den wir alle vereidigt worden sind, weniger profitieren, ist das eine. Ein anderes, die Natur jenes Komplexes verstehen zu wollen. Denn erst nachdem wir uns darüber klar geworden sind, was alles vom Fortbestand unserer heutigen Wirklichkeit abhängt, wird die Hysterie und Rigorosität derer begreiflich, die mit aller Gewalt jeden Zweifel an ihren staatstragenden Dogmen unterdrücken. Und man sieht, wie tief, ja unüberbrückbar die Gräben zwischen diesen beiden ungleichen Gegnern mittlerweile geworden sind. Man versteht einander nicht mehr, weil man unterschiedliche Sprachen spricht; so als habe man es mit zwei grundverschiedenen Menschenarten zu tun. Es ist der Zustand einer Finalsituation, wie es sie zwar immer wieder in der Geschichte gegeben hat, ohne daß jedoch mit Gewißheit von vergangenen Beispielen auf den Fortgang heutiger Verhältnisse geschlossen werden könne.
Sollte auch das derzeitige Regime irgendwann einmal überwunden werden, wird es keine Filme, ja nicht einmal eine qualitativ hochwertige Literatur geben, die zeitnah jene politischen Zwänge und Widrigkeiten dokumentierten und ein Psychogramm der Täter wie der Opfer hinterließen; denn derlei, wie die einst sogenannten Keller- oder Kaninchenfilme kommen eben deshalb gar nicht mehr zustande, weil dazu sowohl der Typus fehlt, der sie schreiben und produzieren könnte, als auch derjenige, den ein tieferes Verlangen danach antriebe, das Ungeheuerliche dieser Tatsache künstlerisch zu verarbeiten. – Was kümmert mich das bißchen geistige Dressur, solange es im Netz alles zu kaufen und virtuell zu erleben gibt, und das offizielle Kollektiv mir täglich sagt, was ich tun muß, um als moralisch »guter« und zeitgemäßer Mensch zu gelten! Wo man in eine anscheinend unabänderliche Zukunft hineinrollt, verliert sich das natürliche Empfinden für Recht und Unrecht, für Wahrheit und Lüge, für Schönes und Häßliches zugunsten einer Überlebensflexibilität, die dazu führt, sich nun noch vehementer für das bereits Bestehende einzusetzen und dieses immer weiter auszubauen, um in der Unterstützung des Unausweichlichen nach seiner verlorenen Mündigkeit zu suchen – und sich schließlich einzubilden, sie im Fortschrittsgehorsam bloßer Zeitgeistadaption auch tatsächlich gefunden zu haben.